Fünf Brüder, ein Vater, ein altes Haus und eine Menge aufgestauter Wut sowie verdrängte Neurosen – MEN & CHICKEN erzählt von einem Leben unter Tieren, von einem Dasein ohne Perspektive und von der Chance, neu anzufangen, wenn man bereit ist, sich selbst zu akzeptieren. Regisseur Anders Thomas Jensen (ADAMS ÄPFEL; 2005) gelang hier ein weitere Meisterwerk, dass sich nach außen nicht immer ernst nimmt, aber in seinem Inneren ein überspitztes Spiegelbild des Menschen offenbart.
INHALT:
Die Brüder Gabriel (David Dencik) und Elias (Mad Mikkelsen) halten zusammen, auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein könnten und mehr als nur einen Konflikt unter einander auszutragen haben. Während der eine Evolutionspsychologie und Philosophie an der Universität lehrt, ist der andere damit beschäftigt seinen Trieben Einhalt zu gebieten. Als ihr Vater stirbt, erfahren sie, dass dieser Mann gar nicht ihr biologischer Vater war. Ihr Weltbild zerbricht. Denn ihr leiblicher Vater soll auf der entlegenen Insel Ork mit ihren drei Brüder leben.
Sofort begeben sie sich auf die Reise zu ihrer neuen, alten Familie. Auf der Insel mit ihren gerade mal 40 Einwohner angekommen, treffen sie auf einen pragmatischen Bürgermeister mit einer neurotischen Tochter und ihre drei drei gewaltbereiten Halbbrüder Franz, Josef und Gregor. Letztere leben auf einem verkommenden, riesigen Anwesen unter einem Dach mit grotesken Tierkreuzungen. Nach dem Schock beginnt für Elias und Gabriel die Detektion nach der Wahrheit über ihre wahre Herkunft…
FAZIT:
MEN & CHICKEN ist eine Parabel auf das Leben verpackt in eine tragische Familiengeschichte und garniert mit einem psychoanalytischen Ansatz. Bitterböse und dabei auf eine eklig-irreale Art sehr witizig ist der Film eine Charakterstudie über Aussätzige, über Verlierer, über Menschen, die sich aufgegeben haben und die reale Welt geistig längst verlassen, vielleicht sogar nie betreten haben – und doch sind genau diese geistig Verwirrten und körperlich Entstellten näher an uns dran, als wir es uns je eingestehen wollen.
Der Zuschauer erlebt das gesamte Spektrum familiärer Konflikte und sozialer Unzulänglichkeiten: Triebgesteuert, ängstlich, neurotisch, altklug und vor allem brutal, gewaltbereit und oft ohne Moral sind diese fünf Charaktere, die in MEN & CHICKEN gezeigt werden, nicht gerade die Vorzeigemenschen. Vielmehr wirkt jeder von ihnen, selbst der Klügste, auf den Zuschauer krank, abnormal und asozial. Doch in Wahrheit ist alles ganz anders. Denn ein anderes Verhalten wäre gegen ihre persönliche Natur. Sie verhalten sich so, wie sie es für richtig halten und mögen dadurch vielleicht keine guten Menschen sein, aber sie sind Individuen, die auch ihre Stärken haben.
Diese Aussage des Films, dass das Andere, das Fremde nichts Falsches, sondern in den Grenzen des eigenen Horizonts sogar etwas völlig Richtiges ist, scheint gleichermaßen ein Statement gegen gesellschaftliche Konformität zu sein, wie es ein Statement für die persönliche Entfaltung ist.
Auch dieser Filmvertreter der Dogma 95-Bewegung ist damit ein Grenzgänger, der die brachiale Realität einfängt und durch ein Skurrilitätenkabinett verlorener, menschlicher Seelen ausfüllt. Das Extreme hält uns einen Spiegel vor und zeigt mit der Macht des Humors die Intoleranz auf, die in uns alle ungewollt schlummert: Auf uns wirken diese Männer abstoßend. Wir werden keine Sympathie als vielmehr Mitleid entwickeln. Wir werden über sie lachen. Aber am Ende erkennen wir uns (wenigstens im Kleinen) in ihnen wieder. Denn jeder von uns hat eine Seite, die er gerne versteckt hält. Schon Sigmund Freud hat sie als „Es“ bezeichnet.
In MEN & CHICKEN hat das „Es“ die Oberhand gewonnen. Und das ist auch gar nicht weiter schlimm, wenn man es akzeptiert und bereit ist, daran und sich zu arbeiten. Die fünf Brüder müssen diese Reise erst noch gehen und dabei gleichzeitig zu einander finden; sich als Familie wieder vereinen.
So ungewöhnlich abnorm und schwarz-humorig die Geschichte und so pervers und asozial ihre Figuren sind, so eindringlich und direkt wird auf einer tieferen Ebene von wichtigen Dingen im Leben erzählt: Familie, Zusammenhalt und die Akzeptanz seines eigenen Ichs. So hat jeder der Brüder etwas Besonders an und in sich. Für die einen ist dies eine schwere Bürde, wie die anderen eine große Gabe. Diese Stärken und Schwächen prägen ihren Charakter. Jensen spielt mit diesen Charaktereigenschaft, überspitzt sie ins Unermessliche und allzu oft auch ins Unerträgliche. Doch umso klarer und einseitiger ein Charakter ist, umso deutlicher wird auch, dass wir alle, trotz der kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften unserer Zivilisationen, im Grunde das instinktgesteuerte Tier geblieben sind, das sich auf der Suche nach seinen Grundbedürfnissen über jeden anderen stellt. Diese Profilierung, dieser Wunsch nach Macht und Ansehen, aber vor allem diese unbändige Sucht nach dem Stillen seiner Bedürfnisse, ist ein Leitmotiv des Bruderzwistes in MEN & CHICKEN. So wird der Schwächste zum Stärksten, während der Stärkste von seiner Sucht nach Befriedigung geblendet wird.
Der Film ist schwer verdaulich, tut weh und lädt zur Flucht vor sich selbst, vor seinen eigenen Charakter ein. Eine Flucht ist jedoch nie eine Lösung. Das zeigt sich auch in MEN & CHICKEN, wo der Tod des Vaters verschwiegen und die eigene Vergangenheit über Jahrzehnte ignoriert wird. Die Folge, ist keine Erlösung, sondern ein Leben mit einer Lüge, die einen aus dem Inneren heraus zerfrisst und die eigenen Unzulänglichkeiten und abnormen Verhaltensweisen in ihrem Kern verstärken. Das Tier im Manne gewinnt in MEN & CHICKEN nur deswegen die Oberhand, weil der Mensch verdrängt. Erst durch die wiedergewonnene Gemeinschaft der Familie können beiden Seiten wieder in Balance stehen und die Brüder selbst mit sich im Reinen sein.
Man merkt in meinen Ausführungen, wie durchdacht, wie komplex die Charakter angelegt sind. So ist MEN & CHICKEN weit mehr als nur eine Tragikomödie. Oberflächlich mag der Film für Fremdscham sorgen, dringt man aber tiefer und lässt man sich wahrhaft auf die kranke Story mit ihren noch kränkeren Geschöpfen ein, schämt man sich am Ende für sich selbst – das ist die wahre Stärke jedes Dogma-Films.
Die tragikomische Satire MEN & CHICKEN ist ab dem 03.12.2015 auf DVD und Blu-Ray im Handel erhältlich.
Moin! Ich bin der Filmaffe. Den Blog hab ich mir ausgedacht. Als Filmjunkie, Digital Native & Medienprimat ist mein natürlich Habitus der Bildschirm und alles, was sich darin befindet.